“Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal, right? Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.”
Österreich als „Waffen Exportierender Energydrink-Hersteller mit Walzermusik im Hintergrund“ (oder so ähnlich): Die „Chronik der laufenden Entgleisungen – Austria revisited“ von Thomas Köck am Schauspielhaus Wien zeichnet ein Bild dessen, was Österreich 2023 auf die Bühne bringt. Mit dieser scharfen Diagnose zieht Köck das Publikum mitten hinein in die Betrachtung des politischen Diskurses des vergangenen Jahres – Jan war vor Ort.
Hard facts: 1h50min, keine Pause, Koproduktion mit dem Schauspielhaus Graz in Kooperation mit dem steirischen herbst, Regie: Marie Bues
Das Stück wirbelt die Zuschauer*innen wie die Kugel in einem Flipperautomaten durch politische Eskalationen und soziale Spannungen und wirkt dabei aufgeweckt und energiegeladen. “Aufgeweckt” beschreibt die Atmosphäre des Abends gut: Es ist ein dynamischer Sog aus Bewegung, Stimmen und Musik. Der Kerninhalt des Stückes ist eine Aneinanderreihung von Verbalattacken, es wird gesprungen, gesungen, getanzt, gelacht und gedacht. Dieser emotionale Wechsel belebt das Stück und fordert das Publikum zum ständigen Mitdenken auf. Politisches Expertenwissen ist hier nicht nötig, denn das Stück ist voller „Aha-Momente“. Immer wieder werden jüngste Ereignisse und Skandale der österreichischen Politik lebendig, sodass man sich denkt: „Moment mal, da war doch was…“
Die Inszenierung – intensiv und voller unbeantworteter Fragen:
Die Schauspieler*innen tragen nationale Trainingsanzüge und bewegen sich oft in verzerrten, verkrampften Gesten. Sind die Kostüme eine Anspielung auf die oft marginalisierte Arbeiterschicht mit Migrationshintergrund? Eine Verdeutlichung, dass die unterschiedlichen Charaktere eigentlich eine gemeinsame Figur darstellen? Oder einfach eine moderne Interpretation einer Uniform?
Die Bühne: ein transparenter Würfel. Ein gläserner Sarg für Ideen und Hoffnungen oder vielleicht auch nur eine minimalistische Kulisse, die die Bedeutung der gesprochenen und gespielten Botschaften unterstreicht?
Der Raum füllt sich mit einem Chaos aus Klang und Text, Stimmen, die mal im Chor, mal wirr durcheinander erklingen und einander oft übertönen. Es grenzt an ein Ding der Unmöglichkeit, alle Textpassagen herauszuhören, geschweige denn auch zu verstehen. Das Ergebnis ist eine leichte Reizüberflutung mit nicht immer klar zuordenbaren Botschaften. Dies könnte eine Anspielung auf die Absurdität des politischen Diskurses sein oder auch ein Stilmittel, um die große Fülle an Informationen, die das Stück in nur 1 Stunde und 50 Minuten präsentiert, zu verarbeiten. Musikalisch wird das Stück von elektronischen Beats begleitet, die das Geschehen sanft untermalen, vorwärtstreiben oder manchmal auch übertönen. Eine Verstärkung des unruhigen Rhythmus des Abends, der Dynamik und Zerrissenheit oder ein gewollter Beitrag zur Reizüberflutung der Zuschauer*innen?
Jede Beobachtung ist frei interpretierbar, jedes Detail könnte eine tiefere Meinung haben oder auch nur kompletter Zufall sein. Das ist allerdings auch das Spannende an experimentellen Stücken wie diesem: Wenn nicht klar ist, worum es genau geht, kann es um alles gehen und es entsteht Raum für individuelle Interpretation. Jede*r im Publikum kann sich ein Bild der Performance machen und darin etwas Eigenes entdecken – ein Detail, eine Bedeutung, die vielleicht nur für sie oder ihn resoniert.
Fazit: Eine Chronik für die “Bananenrepublik Österreich”
Das gesamte Stück wirkt somit uneinheitlich und zerrissen – und ist gerade dadurch umso interessanter und relevanter. Was will uns diese „Chronik“ überhaupt erzählen? Für wen ist sie gedacht?
Sie richtet sich an alle, die die österreichische politische Landschaft erahnen, verstehen oder sogar mitgestalten (wollen) und die bereit sind, sich auf einen intensiven Abend ohne klare Antworten einzulassen. „Die Chronik der laufenden Entgleisungen“ ist mehr als Theater – sie ist ein künstlerischer Weckruf: roh, unruhig, eindringlich und zutiefst provokativ.