tick, tick… BOOM! – Volksoper Wien ** Ein Netflix-Hit auf der Opernbühne

Ich werde nächstes Jahr 30. Alles halb so wild – wenn man sich nicht gerade ein Musical in der Volksoper Wien anschaut, das einem alle noch so aktuellen Ängste vorspielt. Ein Dernieren-Bericht.

In tick, tick… BOOM!verfolgen wir die absolut reale Existenzangst von Jon. Er schreibt Musicals und arbeitet an seinem großen Durchbruch – und wird 30 Jahre alt. Doch was bedeutet es, 30 zu werden?

Don’t panic, don’t jump shit – can’t fight it, like taxes.
At least it happens only once in your life.
They’re singing, „Happy Birthday“,
you just want to lay down and cry.
Not just anothеr birthday, It’s 30/90
aus “30/90”

Ein runder Geburtstag und die Angst des Versagens.

Aus irgendeinem Grund zittern wir vor dem 30. Geburtstag. Er bedeutet quasi “Erwachsen” zu werden. Das (meist) offizielle Ende der Studienzeit, der Beginn des ernsten Lebens. Absolut legitim also, das Jon sich viele Fragen zu seiner Zukunft stellt.

Was, wenn du 30 wirst, und sich gar nichts ändert? Wenn deine Erwartungen enttäuscht werden? – Susan

tick, tick… BOOM!” spielt uns genau diese Fragen vor. Für alle, die noch etwas weiter weg sind vom 30er, ein lustiger Abend. Für alle anderen ehrlicherweise ein bisschen too close to home – was aber nicht zwingend etwas Schlechtes ist.

Jakob Semotan (Jon), Oliver Liebl (Michael), Band (c) Barbara Pálffy, Volksoper Wien

Erwartung vs. Realität: Künstler*Innen-Edition

Das Leben von Künstler*innen und Kunstschaffenden wird zwar in vielen Filmen und Serien gezeigt, jedoch selten realistisch. In Tanzfilmen wohnen arbeitslose Tänzer*Innen in den geilsten Apartments in New York mit Blick auf die Skyline. Es werden mittellose Künstler*Innen gezeigt, die sich trotzdem unendlich Farbe, Leinwände und Atelier-Miete leisten können. Die falsche Darstellung der Realität hat zu einem verdrehten Blick der Gesellschaft auf die Kulturbranche geführt.

Ich weiß noch, wie ich mit 16 mit meinen Lehrer*innen diskutiert habe, die der festen Überzeugung waren, Künstler*Innen werden vom Staat gefördert. Dabei ist die Kunst- und Kulturbranche verbunden mit teuren Ausbildungen, meist noch teureren Equipment und vielen, vielen Absagen. Etwas anderes sehen wir in “tick, tick… BOOM!”: Jon lebt in einer kleinen Wohnung in SOHO und der fehlende “Luxus” wird nicht nur einmal thematisiert. 

Shower’s in the kitchen, there might be some soap
Dishes in the sink, brush your teeth if you can cope
Toilet’s in the closet, you better hope there’s a light bulb in there.
aus “Boho Days”

Jakob Semotan (Jon), Oliver Liebl (Michael), Band (c) Barbara Pálffy, Volksoper Wien

Das Musical zeigt die harte Realität von Künstler*innen und den Zwiespalt, in dem sie sich jeden Tag befinden. Will ich Stabilität, ein regelmäßiges Einkommen und Familie, oder will ich Erfolg, Karriere und meinen Traum leben? 

Es braucht nicht viel für eine große Show.

Die Inszenierung an der Volksoper ist der Beweis, dass es nicht viel braucht, um junge Menschen zu begeistern: 3 Darsteller*innen, Band, simples Bühnenbild, Neonlicht. Während die Volksoper Wien es inzwischen geschafft hat, auch generell den Altersschnitt ihres Publikums zu senken, war “tick, tick… BOOM!”, denke ich, ein neuer Rekord – denn der Raum war voll mit Kindern, Teenagern und jungen Erwachsenen.

Der junge Altersschnitt ist nicht verwunderlich, immerhin gibt es eine Netflix-Adaption des Musicals mit Andrew Garfield in der Hauptrolle. Und trotzdem: Es ist doch noch mal eine extra Überwindung, in die Volksoper zu gehen, statt einfach nur den Film zu streamen. 

Rock’n’Roll, Emotion & Lebenskrise

Die Rolle des Jon ist wie maßgeschneidert für Jakob Semotan. Er spielt die Verzweiflung und die Lebenskrise des fast 30-Jährigen Künstlers großartig und überzeugt nicht nur durch sein Schauspiel, sondern auch durch seine kräftige Stimme. Leider war bei den ersten zwei Liedern die Band zu laut gepegelt, weshalb sie textlich fast nicht verständlich waren. Umso begeisterter wurde dann applaudiert, als die Balance der Lautstärke wiederhergestellt war.

Oliver Liebl (Michael) ist der perfekte Finance-Bro/gescheiterter Schauspieler und beste Freund. Unerwartet geil war vor allem seine Rock’n’Roll-Stimme sowie der emotionale Outburst, als er Jon endlich sein Herz ausschüttet. Sophia Gorgi (Susan) schlüpft überzeugend in ihre verschiedenen Rollen von Jons Freundin, Jons Agentin und Lead-Singer in Jons Musical. Ich habe tatsächlich zwei Mal hinschauen müssen, so überzeugend war der Rollen-Switch. Auch stimmlich hat Gorgi überzeugt: Ihr Solo “Come to Your Senses” sorgte für Gänsehaut – auch wenn der hohe Abschluss-ton etwas schwächer als erwartet war (allerdings ist das Jammern auf sehr, sehr hohem Niveau, denn der Rest der Performance war ein Wahnsinn!).

Sophia Gorgi (Susan), Jakob Semotan (Jon), Oliver Liebl (Michael) (c) Barbara Pálffy, Volksoper Wien

Highlight der Show war die Performance von “Cages or Wings” – Semotan, Gorgi und Liebl bildeten ein kraftvolles Trio mit so viel Emotion, dass es einfach mitten in’s Herz ging. 

Why do we follow leaders who never lead?
Why does it take catastrophe to start a revolution?
If we’re so free, tell me why so many people bleed?
Cages or Wings, which do you prefer? Ask the birds.
aus “Cages or Wings”

Ein Auge auf die Band darf natürlich auch nicht fehlen: Christian Frank (Bandlead), Felix Reischl (Gitarre), Marie Shirin Schweiger (Bass) und Mario Stübler (Schlagzeug) haben den ganzen Abend für top Stimmung gesorgt und der Musik nochmal ein Stückchen mehr Magie verpasst.

Fazit: Bitte mehr davon!

Ich hoffe sehr, dass dieses Musical ins Repertoire aufgenommen wird. Denn es lockt ohne Probleme junge Menschen in’s Opernhaus und auch mit 29/30 ist es, trotz harter Realität, absolut sehenswert und ein unfassbares Erlebnis. 

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