Migra-Boi trifft auf Buch Wien 2024

Der erste Tag der Buch Wien: Zwischen schönen Büchern, viel Gerede, Austausch zwischen Gleichgesinnten und Alkohol am Arbeitsplatz.

Eintritt in die hellbeleuchtete und klimatisierte Höhle der Bücher:

First-Things-first: Die Messe Wien, in der die Buch Wien stattfindet, war mit der U2 sehr leicht (easy peasy) zu erreichen. Die Buch Wien versteht sich als größte/-s Messe und Festival für Bücher in Österreich. Umso gespannter war ich als Buchliebhaber (aka Sucker-for-Books), die Buch Wien das erste Mal für kultur*knistern zu besuchen. Welche Menschen waren dort? Schulklassen, Menschen zwischen 45-70 und junge Frauen mit Freund*innen, Kolleg*innen oder Partner*innen. Ich als Mitte-20-jähriger Mann mit Wurzeln aus dem Balkan bildete eher die Ausnahme als die Regel.

Wer seine Jacke oder sonstige Kleidungsstücke abgeben wollte, musste zwei Euro PRO Kleidungsstück bezahlen. An dieser Stelle könnte man meinen: WUCHER! Aber hey, Leute stehen dort die ganze Zeit, um auf deine Garderobe aufzupassen, so pay them some respect or at least 2 Euro pro Kleidungsstück! Nachdem ich meine Jacke für 2 Euro gegen eine pinke Marke aus Hartplastik getauscht hatte, holte ich mir im Eingangsfoyer das Buch Picknick auf dem Eis von Andrej Kurkow. 100.000 Stück davon werden im Zuge der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ der Stadt Wien *GRATIS* verteilt.

Let’s be honest: Zu etwas, was gratis ist, sage ich nicht nein. Wenn es dann noch ein Buch ist? Umso besser.

Der Umschlag erinnert leider an diese Slice-of-Life-Romane, die Leute in Bücher-Telefonzellen abgeben, weil man sich schon irgendwie mit der Handlung und den darin besprochenen Figuren mit ihren Problemen identifizieren kann, aber diese Bücher nicht gut genug sind, um sie nochmals zu lesen. Dennoch sollte man ein Buch nicht nach dem Aussehen beurteilen und ich freue mich schon sehr darauf, es zu lesen.

Als ich das Buch dankbar von einer Mitarbeiterin entgegengenommen hatte, wollte ich sofort zur Lesung von Toxische Pommes – ich bekam ihr Buch “Ein schönes Ausländerkind” von zwei  Freundinnen (unabhängig voneinander) geschenkt und las es im Sommer, deshalb war die Lesung von ihr ganz oben auf der Liste von den Dingen, die ich auf der Buch Wien erleben wollte.

Werbung für die Demokratie & die Kultur Europas vs. Integrationslüge Österreich:

Bevor ich Toxische Pommes und Stefanie Jaksch auf der ORF-Bühne zuhören konnte, hielt Julian Nida-Rümelin noch seine (lange) Eröffnungsrede. Als renommierter Philosoph der heutigen Zeit hob er die “Demokratie als schützenswertes Gut” sowie die Kultur Europas als einen Schatz, den man trotz Globalisierung und sinkender Wirtschaftsleistung nicht unbedingt gegen Geld aufwiegen könne, hervor und appellierte an eine offene Haltung und Bewahrung von Vielfalt. Dafür wären Bücher auch der perfekte Weg – oder so. Danach fragte ich mich dann nämlich:

Wer sind die Verlierer, wenn demokratische Versprechen und Kultur nicht ausreichen, um sich ein selbstbestimmtes Leben mit demokratischer Teilhabe leisten zu können? Sicher nicht jene Menschen, die der Rede von Dr. Nida-Rümelin im Publikum stillschweigend lauschten. 

Julian Nida-Ruemelin © Nicola Montfort

Ironischerweise folgte seiner Rede die Lesung mit Toxischer Pommes aus Ein schönes Ausländerkind. Darin beschreibt sie die (autofiktionale) Fluchtgeschichte einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich vor allem durch eines auszeichnet: dem Verstecken. 

Ist der Zugang zu Demokratie und Kultur nur dann gestattet, wenn der Pass und die Herkunft passen? 

Wenn das die Basis dafür ist, würde ich mich auch lieber für die Lüge entscheiden, dass meine Leistung nur gut genug sein muss, um reich zu werden anstatt für die Lüge, dass ich nur genug leisten muss, um vom Geflüchteten zum demokratischen und kulturell gebildeten (Staats-)Bürger aufzusteigen. Also lieber Kapitalismuslüge vor Integrationslüge.

Toxische Pommes © Nicola Montfort

Neben der ORF-Bühne gibt es fünf weitere Bühnen, auf denen gleichzeitig Veranstaltungen zu verschiedenen Themenschwerpunkten stattfinden:

  • Internationale Politik und Sicherheitspolitik
  • Wirtschaft und Finanzen
  • Technologie und Wissenschaft
  • Belletristik

Sonst würde sich die Masse an Veranstaltungen auch nicht ausgehen. Vorteil: Der Wunsch, Debattenkultur und wissensbasierten Austausch zu fördern. Nachteil: Applaus und Jubelschreie der einen Bühne stört oft das still zuhörende Publikum bei der anderen Bühne.  

Überraschung: Menschen, die mit Büchern handeln, sind eigentlich nett. Als die Lesung mit Toxische Pommes beendet war und ich mein Buch signieren lassen konnte, machte ich mich auf den Weg, die einzelnen Messestände zu erkunden und let me tell you: Es war selten so schön, über Bücher zu sprechen, wie auf der Buch Wien. Die Ausstellenden waren so freundlich und angenehm. Zudem war ich über die Themenvielfalt positiv überrascht.Von mittelalterlichen Chroniken bis zu arabischen Kinderbüchern gab es alles, was man sich als Leser*In wünschen konnte. Mein Tipp an euch: Sprecht die Ausstellenden an! Sie haben (meistens) alle Bücher gelesen und empfehlen euch Bücher, die zu euren Vorlieben passen könnten. 

2-Zimmer-Science-Lounge trifft auf luxuriöse New-Adult-Villa

Der Book-Tok-Trend macht sich auch auf der Buch Wien‘24 bemerkbar. Obwohl die diesjährige Messe den Schwerpunkt “Wissenschaft” hat, was sich im Programmheft und den geplanten Veranstaltungen widerspiegelt, beschränkt sich der Bereich der Science-Lounge auf 60m2. Das entspricht in etwa der Größe einer 2-Zimmer-Wohnung. Im Gegensatz dazu hat der New-Adult-Bereich 190m2 – also ca. die Größe einer Villa mit 8 Zimmern. Am Ende des Tages ist der/die Kund*In König*In und was TikTok zeigt, ist anscheinend das, was Leute wollen. Auf das reagiert die Buch Wien. Kann man es ihr Übel nehmen? Nicht wirklich. Ist es dennoch schade, dass die Science-Lounge nicht größer als eine 2-Zimmer-Wohnung ist? Ja.

Alkohol am Arbeitsplatz? Ein No-Go. Bei der Buch Wien: Zu Vino gibt es nie ein No.

Im Laufe des Abends wurde mir immer klarer, wie besoffen die Leute teilweise waren. Und wenn ich „die Leute“ schreibe, meine ich eigentlich hauptsächlich die Aussteller*Innen. Versteht mich nicht falsch, es war ein angenehmer Abend und der Austausch zwischen Gleichgesinnten lässt einen schnell aus den Augen verlieren, dass man als ausstellender Verlag in erster Linie aus beruflichen Gründen dort ist. Wobei, vielleicht verkauft man betrunkenen Messe- und Festivalbesucher*innen mehr Bücher? Blöd ist es nur, wenn man als Aussteller dann schon so besoffen ist, dass man nicht mehr wirklich auf Fragen eingehen kann. Aber naja, die Buch Wien dauert 5 Tage – man kann auch an einem anderen Tag wieder kommen, wenn die Ausstellenden wieder nüchtern sind. Oder zumindest weniger betrunken.

Eroeffnungsrede der Buch Wien 24_Julian Nida-Ruemelin © Nicola Montfort

Mein Fazit?

Mein allererster Tag auf der Buch Wien war für mich eine unglaubliche Bereicherung. Als Buchliebhaber und Person, die wissenschaftlich basierten und wertschätzenden Austausch schätzt, kam ich definitiv auf meine Kosten und der Austausch mit Menschen, die Bücher genauso feiern wie ich, war sehr bereichernd. Doch ich glaube, sie nimmt sich mehr vor, als sie wirklich kann. Denn jene Personen, die am Ende des Tages die Verlierer sind, wenn die Wissenschaft keine Antwort auf wirtschaftliche, politische, menschliche und ökologische Krisen findet, sind nicht dieselben, die eine “Buch Wien” besuchen. Es sind auch selten diejenigen, die in Büchern nach Lösungen für Krisen suchen – ob es die eigenen Krisen sind oder Themen, die uns alle betreffen. 

Ein wichtiger Ansatz, den die Buch Wien verfolgt, ist, dass auch Schulklassen direkt als Publikum angesprochen werden und der Eintritt für Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre kostenlos ist. Das gibt Hoffnung, dass der Sturm- und Wissensdrang (das Motto der diesjährigen Buch Wien) nicht in “bürgerlichen” Kreisen bleibt, sondern sich die verändernde Kraft, die Bücher und das Lesen von Bücher haben, bereits im jungen Alter und bei Kindern und Jugendlichen, die sonst keinen selbstverständlichen Zugang zum Lesen und zu Büchern haben, zeigt.

Schau hier her → Look here → Buraya bak → Pogledaj ovde → Nézd ide → Guarda qui → انظر هنا → Podívej se sem → Spójrz tutaj → Посмотри сюда → Виж тук → Nhìn đây →

knisternde Beiträge:

"Kultur ist nachhaltig" vegan" lit oida" glutenfrei" neurodivergent" neutral" kulturell" nonbinär" geil" Hafermilch?" chaotisch" richtig" bunt" verständnisvoll" multi" direkt" ...FÜR ALLE"