Consistent Fantasy is Reality – NEST ** Glitzer, Fantasie & Revolution

Türkisch in der Wiener Staatsoper? Niemals hätte ich gedacht, dass dieser Tag kommen wird. Das NEST (aka die “Neue Staatsoper”) macht den ersten Schritt – und bringt die österreichische Hochkultur ins 21. Jahrhundert. 

Istikrarh Hayal Hakikattir war ein Manifest des Widerstands durch Vorstellungskraft, ein Aufruf, die Realität infrage zu stellen. – Gaye Su Akyol

Von Angst, Rebellion, Liebe und Hoffnung.

Je stärker man an etwas glaubt, desto eher geht es in Erfüllung. Das hat nicht unbedingt etwas mit Aberglaube zu tun, sondern mit unserer Einstellung zum Leben. In “Consistent Fantasy is Reality” hält uns Gaye Su Akyol einen Spiegel vor unser Gesicht und erinnert uns an unsere Freiheit: Eine grenzenlose Vorstellungskraft und den Mut, unsere eigene Realität zu erschaffen. 

Ich wollte das Publikum auf eine Reise mitnehmen, in der Musik, visuelle Elemente und Emotionen zu etwas Immersiven verschmelzen – etwas, das über die Bühne hinaus nachhallt. – Gaye Su Akyol

Zugegeben, ohne die Untertitel auf den Seiten der Bühne wäre ich verloren gewesen. Die Handlung hätte ich zwar trotzdem verstanden, aber die wunderschönen Texte wären spurlos an mir vorbeigezogen. So wechseln meine Augen ständig zwischen Screen und Bühne, um ja nichts zu verpassen. Denn Gaye Su Akyol’s Texte sind Meisterwerke, die mitten in’s Herz treffen. 

Worum geht’s?
Die Lehrerin und Aktivistin Nes, der konservative Riza und der queere Student Deniz steigen in Gaye Su Akyols (GSA) minibüs. Plötzlich wird der Bus mitsamt seinen Passagieren ins Weltall gebeamt, die Situation eskaliert, es kommt zu Streit und der Bus crasht auf einem fremden Planeten. Dort führt die NOP (New Order Project, eine geheime Organisation hochrangiger Weltpolitiker*innen) Experimente durch, um den Einheimischen ihre Fantasie zu stehlen. Gaye Su Akyol, Nes, Riza und Deniz müssen zusammenarbeiten und Teil der Fantasy Revolution werden, um die Zerstörung der Erde aufzuhalten… 

Mit dem minibüs durch die Galaxie (c) Jaro Suffner

Ein Alters- und Migra-Schnitt der Sonderklasse

Mit “Consistent Fantasy is Reality” dürfte das NEST wenigstens für eine kurze Zeit das Problem der fehlenden Diversität in der Hochkultur gelöst haben. Das Publikum ist bunt gemischt mit einem Altersschnitt um die 30… Und zum allerersten Mal seit ich in die Oper gehe (also seit inzwischen ca. 15 Jahren), ist das klassische Opernpublikum in der Minderheit.

Kunst besitzt die Kraft, Welten neu zu formen, und wenn auch nur eine Person mit einem stärkeren Gefühl für ihre eigene Wahrheit aus meiner Musik hervorgeht, dann habe ich erreicht, was ich mir vorgenommen habe. – Gaye Su Akyol

Diese erfrischende Zusammensetzung der Menschen im Saal wirkt sich massiv auf die Stimmung aus. Von der Vorfreude und Spannung vor Beginn bis hin zum absolut überwältigenden Gefühl der Zugehörigkeit und Macht am Ende der Vorstellung.

Sci-Fi, Glitzer und Rebellion

Abgesehen davon, dass man die ganze Zeit an den Lippen der Darsteller*Innen hängt und gespannt darauf wartet, was als nächstes passiert: Das Bühnenbild und die Kostüme von Katrin Lehmacher und Marc Molinos sind ein absoluter Fiebertraum. Ich bin mir nicht sicher, ob “weniger ist mehr” hier tatsächlich zutrifft, auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt, als wäre wenig los. Denn während GSA, Deniz, Riza und Nes in Alltagskleidung auftreten, sind die Cyborgs mit silber-glänzenden Anzügen, tollem Make-Up und weißen Umhängen ausgestattet. Und dann wäre da noch der zweiköpfige, bunte Vogel mit einem Bauchladen voller Glitzer, Konfetti und Snacks…

Als jemand, der wenig Berührungspunkte mit türkischer Popmusik hat, hat mich Gaye Su Akyol absolut umgehauen. Ihre Lieder sind musikalische Gedichte und die Sängerin malt uns mit ihrer Stimme schöne Bilder mit starker, politischer Message. Mal singt sie alleine, mal singen alle zusammen auf Türkisch. To be fair: Ohne die Musik wäre das Stück ein basic Fantasy-Roman mit ein bisschen Gesellschaftskritik. Mit Musik wird das Stück allerdings zu einer wunderschönen, emotionalen Reise durch aktuelle Themen. 

Grace Heldrige (Nes), Gaye Su Akyol (c) Jaro Suffner

Das Patriarchat betrifft uns alle. 

Thoma Jaron-Wutz (Deniz) und Grace Heldrige (Nes) sind die perfekte Darstellung der “new Generation”. LGBTQIA+, Demonstrationen gegen Korruption, Revolution der Bildung, … Alles Themen, die (jedenfalls augenscheinlich) primär Menschen unter 30 am Herzen liegen. Sie verkörpern diese Message perfekt – und überzeugen zusätzlich gesanglich. Denn ein paar Mal hören wir Barockmusik, die alles andere als verstaubt ist. Sie passt textlich hinein und ist um nichts weniger emotional als die Popsongs davor. Wir sind bitte immer noch an der Staatsoper.

Felix Witzlau (Riza) verkörpert währenddessen die andere Seite unserer Gesellschaft. Von der “Woke”-Bewegung vernachlässigt, als weißer Cis-Mann einer anderen Generation, ehemaliger Military-Dude. Er kämpft ebenso mit den Auswirkungen des Patriarchats auf sein Leben. Zeig keine Emotionen (außer Wut), sei stark no matter what, du darfst nicht versagen. Eine wahnsinns Leistung, die vor allem schauspielerisch zu Tränen rührt. 

So vielfältig die Themen sind, so bunt ist auch das Ensemble. Und das ist im “Kulturland Österreich” bzw. in großen Opern-/Theaterhäusern (leider) wirklich selten. DJ Ipek lockert als bunter Vogel die ernsten Themen auf, Barlas Tan Özemek, Ali Güçlü Şimşek und Ege Soydan bringen als Cyborgs und Musiker*Innen die Bühne zum Beben. Und während das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper diese Art von Musik wahrscheinlich überhaupt nicht gewöhnt ist, ist es umso schöner zu sehen wie sie das Stück genauso genießen, mit wippen und fühlen wie die Zuschauer*Innen. 

Die Message ist klar: Fantasie ist die Rettung! (c) Jaro Suffner

Fazit: Ein Stück, das Türen öffnen kann.

Mit “Consistent Fantasy is Reality” besteht die Chance, andere und neue Communities abseits der klassischen Bubble in ein Opernhaus zu holen. Es ist eine angenehme, leichte Mischung aus Pop mit ein bisschen Klassik und senkt Hemmschwellen. Unbedingt anschauen, solange es noch läuft – und bitte wieder in den Spielplan aufnehmen. 

CONSISTENT FANTASY IS REALITY bis 29.03. im NEST. Mehr Infos gibt’s hier.

Gaye Su Akyol (Musik), Esteban Muñoz Herrera (Regie), Julia Jordà Stoppelhaar (Stückentwicklung & Dramaturgie), Rafael Salas Chía (Musikalische Leitung), Katrin Lehmacher (Bühnenbild & Kostüm), Marc Molinos (Bühnenbild & Video), Daniel Daniela, Ojeda Yrureta (Choreographie), Sinan Tuncay (Videokonzept und -Produktion)

Schau hier her → Look here → Buraya bak → Pogledaj ovde → Nézd ide → Guarda qui → انظر هنا → Podívej se sem → Spójrz tutaj → Посмотри сюда → Виж тук → Nhìn đây →

knisternde Beiträge:

"Kultur ist nachhaltig" vegan" lit oida" glutenfrei" neurodivergent" neutral" kulturell" nonbinär" geil" Hafermilch?" chaotisch" richtig" bunt" verständnisvoll" multi" direkt" ...FÜR ALLE"