Molières Stück “Der eingebildete Kranke” ist bereits im Jahr 1673 erschienen. Er selbst spielte damals auf der Bühne die Rolle der Hauptfigur – und starb sogar in dieser Rolle auf der Bühne. The Dedication. Es liegt mit einem so alten Text nahe, dass es sich möglicherweise verstaubt zeigt. In der Inszenierung von Stefan Bachmann, welche er vom Schauspiel Köln an das Akademietheater mitgebracht hat, ist das allerdings ganz und gar nicht der Fall: Es sind 1:40h pure Unterhaltung.
Hard Facts:
Regie: Stefan Bachmann / Schauspieler*innen: Regina Fritsch, Rosa Enskat, Paul Basonga, Lola Klamroth, Melanie Kretschmann, Barbara Petritsch, Justus Maier, Tilman Tuppy, Ernest Allan Hausmann
Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes / Choreographie und Körperarbeit: Sabina Perry
Dramaturgie: Thomas Jonigk, Lena Wontorra
Dauer: 1:40h
Autor: Molière, In einer Überschreibung von Barbara Sommer und Plinio Bachmann
Erscheinungsjahr des Stückes: 1673
Der Hypochonder macht alle fertig
Der eingebildete Krank ist, wie der Titel bereits verrät, nicht wirklich krank. Er ist ein Hypochonder, der zu den immer gleichen Ärzten pilgert, die ihm die immer selben Heilungen empfehlen und entsprechend verrechnen. Alle in seinem persönlichen Umfeld (außer die gierige Ehefrau) versuchen ihn eigentlich davon zu überzeugen, dass er keine Heilung braucht. Die Tochter möchte währenddessen ihren neuen Geliebten heiraten. Sie hat ihn im Theater getroffen – und er kann sämtliche Rücksichtnahmen und Privilegien, der er als weißer heterosexueller Mann hat, aufzählen. Das wird vom Vater unterbunden, er möchte einen Arzt als Schwiegersohn. Das bringt ihm viel mehr. Währenddessen versucht die Hausangestellte, die Tochter in ihrer Partnerwahl zu unterstützen, den Herren von seinem Gesundheitszustand zu überzeugen, die neue Ehefrau als geldgierig zu entlarven und gleichzeitig ihren Status nicht zu verlieren. Dann gibt es noch den Bruder, der von Astrologie und schrecklichen Ärzten spricht, die die Patientinnen krank halten und nach Strich und Faden ausnehmen.

Das Spiel mit Stereotypen: we listen & we judge.
Eines der schönsten Punkte an der Inszenierung ist, dass die Rollen teilweise vom anderen Geschlecht gespielt werden. Die zierliche Tochter ist ein großer, kräftiger Mann, die kranke reiche Titelfigur eine Frau. Es wird mit den Rollen gespielt, klassisch stereotyp geschlechtlich konnotierte Handlungen/Eigenschaften werden überzogen und ins Lächerliche gezogen, sind aber als Figuren für voll zu nehmen.
“Er liebt mich als Mensch und nicht die zufällige Hülle einer Frau, der ich innewohne.”

Alle haben Zeit, die eigenen Befindlichkeiten und Positionen genau auszuführen. Von der Darstellung des korrekten Ablaufes einer Intimszene auf der Bühne, hin zu den Abneigungen gegen Ärzte oder auch deren Vorzüge. Letzteres kommt allerdings ausschließlich vom Hypochonder. Auch die Tochter hat die Möglichkeit, ihre derzeitige Position im Patriarchat ihrem Vater darzulegen, die er, merkwürdiger Weise, nicht versteht. Politische Korrektheit wird auch durch den Kakao gezogen, in dem besonders darüber geredet wird, was zu tun und sagen sei – anstatt es einfach zu tun oder zu sagen.
Intime Szenen entwickeln: Die 5-C-Regel
Context: Der Kontext der intimen Szene muss erklärt werden, ihr Sinn begreiflich sein.
Communication: Ein steter Kommunikationsfluss soll Grenzüberschreitungen und Schweigen aus Angst verhindern.
Consent: Das Einverständnis für Berührungen und Handlungsabläufe wird vorher eingeholt.
Choreography: Dementsprechend wird eine «Choreografie» festgelegt. Überraschungsküsse oder spontane Berührungen sind nicht erlaubt.
Closure: Nach der Durchführung intimer Szenen setzt man, zumindest im Film, auf einen ritualisierten Abschluss.
Die Kraft des Schauspiels
Auf der schwarzen, leeren Bühne mit einer Chaiselongue in der Bühnenmitte als Einrichtung toben sich die Schauspieler*innen den ganzen Abend aus. Es ist eine wahre Freude ihnen bei den überzogenen und dramatischen Darstellungen der Figuren zuzusehen. Inklusive Kostüme – die gefühlt längste Perücke der Welt, ein rüschiges weißes Nachthemd für den Kranken, eine riesige Schleife auf dem Kopf der Angestellten. Große Federn für das Haupt des Bruders, das Ärzteduo in schwarzem Leder. Und alle mit ordentlich Schminke im Gesicht. Was an Möbel auf der Bühne “fehlt”, wird in Kostüme investiert.
Viele spitze Bemerkungen und eine echte Bearbeitung der Lachmuskeln stehen hier auf dem Programm. Und alles nicht persönlich nehmen, verschont bleibt hier niemand – allein deswegen lohnt es sich hinzugehen. Ein sehr altes aber aktuelles Stück in absolut zeitgenössischer Weise auf die Bühne gebracht!
