Ever Given – Volkstheater Wien ** Kollaps und Wiederaufbau

Was passiert, wenn man die Geschichte vom 400m-langen Containerschiff “Ever Given”, das 2021 den Suezkanal blockiert hat, in ein Theaterstück umwandelt? Es ist die Erzählung von einem funktionierenden System und beginnenden Problemen bis zum endgültigen Kollaps und dem anschließenden Wiederaufbau: Das Theaterstück “Ever Given” ist auf dem Prinzip eines Zyklus aufgebaut und bringt die Realität auf die Bühne. 

Schönes Stück, traurige Message & Realitätswatschn.

Die Blockade der “Ever Given” sorgte 2021 dafür, dass 420 weitere Frachtschiffe nicht an ihren Zielort gelangen konnten. Plötzlich fielen die Dominosteine: Lieferketten brachen zusammen und beeinflussten den Finanzmarkt negativ. 

Das Volkstheater stellte für das Theaterstück ein Ensemble mit vier Schauspieler*innen zusammen, deren Lebensgeschichte ebenso unerwartete Wendungen wie der Stillstand der Ever Given aufweist. Krisen, die überwunden werden müssen, eine Geschichte, wie das Leben weitergeht und doch aber nicht mehr so weitergehen kann.

In Form einer Vorstellungsrunde bekommt das Publikum erst überblicksartige Einsicht in den Werdegang der Darsteller*innen. Stück für Stück werden diese Einblicke mit Details der einzelnen Schicksalsschläge gespickt, bis aus all diesen Teilen ein großes Ganzes erkennbar ist. Eine fünfte, etwas ungewöhnliche Schauspielerin bildet das bindende Element zwischen den persönlichen Schicksalsschlägen der Protagonist*innen und dem Schiff: Die Schauspielerin LED. Es handelt sich hierbei um eine personifizierte LED-Leinwand, die ihre Reise auf dem Containerschiff Ever Given erzählt – als wäre sie ein Objekt mit menschlichem Verständnis, Gefühlen und Traumata. Es ist die perfekte Verbindung zwischen Mensch, Umwelt und menschengemachten Missständen und thematisiert die enge Zusammenarbeit von Produktion und technologischen Möglichkeiten, deren autonomer Fortschritt immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. 

Expert:innen der nicht-alltäglichen Unterbrechung: Hana Hazem Arabi, Adham Elsaid, Marianne Vlaschits (v.l., im Hintergrund Daniel Eichholz und Barbara Morgenstern) © Marcel Urlaub, Volkstheater

Von der Hochphase zur Eskalation bis hin zur Neuorientierung: Der Zyklus eines Systems 

Struktur fand das Theaterstück nicht in einer, wie sonst so oft, linearen Form, sondern in einem sechsteiligen Zyklus. Er zeigte die verschiedenen „Stages“ des Containerschiff-Kollapses: Vom Aufbruch über die Befahrung des Kanals, der Havarie, der Ruhe nach dem Sturm, den Auswirkungen auf den Finanz- und Handelsmarkt bis hin zu der Neuorientierung. Jeder Theaterabend beginnt mit dem Einstieg in einen anderen Teil der Geschichte. Ein spannendes Detail, um den Kreislauf zu verdeutlichen. Auch die Requisiten und Schauspieler*innen werden in unterschiedlichster Art dargestellt: Während vier reale Personen auf der Bühne von ihren Lebensgeschichten erzählen, wird beispielsweise Künstlerin Marianne Vlaschits mittels Videoprojektion, sowie LED in ihrer Rolle als Leinwand im Lieferprozess an Bord der Ever Given gezeigt. 

Das bewusste Eröffnen völlig neuer Welten

Ein besonderer Fokus des Theaterstücks lag auf dem Bewusstwerden, dass Menschen durch die unterschiedlichsten Schicksalsschläge in ihrem Leben eingeschränkt werden können. Hana Hazem Arabi nimmt das Publikum auf die verschiedenen Etappen der Flucht vom Süden Syriens nach Europa mit und erklärt seine Gefühle über das  völlig fremde Leben in Österreich. Michaela Groch-Fischer lässt die Zusehenden an den Schattenseiten ihrer geplatzten Eiskunstlaufkarriere teilhaben. Adham Elsaid schafft mit seinen unglaublich guten sprachlichen Bildern eine Brücke zu seiner Kindheit, die er an den Ufern des Suezkanals mit Fußball-spielen verbrachte und Tag für Tag die vorbeiziehenden Frachtschiffe beobachtete – bis er eines Tages nicht mehr gehen kann. Auch Marianne Vlaschits beschreibt ihre Sicht auf die Welt als stotternde Person. Diese oft auf den ersten Blick unerkennbaren Geschichten, die jeder Mensch mit sich trägt, werden im Laufe des Theaterstücks immer klarer und wirken unglaublich bewusstseins erregend.

EVER GIVEN – Eine Kipp-Punkt-Revue © Rimini Protokoll

„History repeats itself“ – die Rolle der Musik und des Bühnenbilds

Um das Theaterstück an jedem Abend als Zyklus wiederzuerkennen, sind spezielle wiederkehrende Elemente im Bühnenbild, der Musik und den Dialogen eingebaut. Die Bühne ist ständig in Bewegung und erinnert an ein immer wieder im Kreis rotierendes System.

 „Es werden Dinge von allen Seiten betrachtet. […] All diese Ebenen sind miteinander verbunden und können jeweils einen neuen Aspekt eines Gedankens hervorbringen.“- Regisseurin, Text,- und Konzeptartistin Helgard Haug

Die verschiedenen Perspektiven durch kleine Video- und Lichtinstallationen von Marc Jungreithmeier verdeutlichen die unterschiedlichsten Blickwinkel, von denen jede Situation, jeder Mensch und jede Geschichte als Unikat betrachtet werden. Der Satz „History repeats itself“ ist nicht nur im Bühnenbild ein großes Thema, sondern wird vor allem in der Musik zum überwiegenden Schlüsselelement. Immer wieder werden im Theatertext Wörter und Sätze wiederholt. Auch die Musik greift im Verlauf des Stücks kontinuierlich Hauptthemen auf. 

„Das gibt mir Freiheit, jeden Abend spontan zu entscheiden, was mir einfällt oder worauf ich gerade Lust habe.“ – Komponistin Barbara Morgenstern in einem Interview mit Dramaturgin Maria Nübling zu ihrer musikalischen Live-Gestaltung. 

Das Ensemble-Trio mit Daniel Eichholz (Percussion), Barbara Morgenstern (Synthesizer) und Peter Breitenbach (Sounddesign) performt live und begleitet jeden Abend durch spontane Improvisation und setzen durch sich immer wiederholende “Loops” Akzente in der Handlung.

Revue-Line-up: Barbara Morgenstern, Hana Hazem Arabi, Adham Elsaid, Michaela Groch-Fischer, Peter Breitenbach, Daniel Eichholz © Marcel Urlaub, Volkstheater

Der Schneemann am Bühnenrand

Am vorderen Bühnenrand steht den ganzen Abend ein kleiner Schneemann. In der zweiten Hälfte fällt plötzlich seine Karottennase auf den Boden. Natürlich ist klar: Dieser Schneemann spielt eine Rolle, aber was genau soll das? Am Ende klärt ein Zeitraffer-Video alles auf: Während im Hintergrund die Bühnenarbeiten und der Gesamtablauf des Theaterstücks zu sehen sind, schmilzt der Schneemann langsam dahin. 

Das Theaterstück endet mit der Aussage eines/r Verantwortlichen eines Reedereibetriebes, dass man sich keine Sorgen über weitere Verzögerungen im Suez- und Panamakanal machen soll. Man müsste ja nur warten, bis das Eis endlich durch den Klimawandel schmilzt, denn der Handelsweg über Alaska bietet eine verlässliche Route zum unendlichen Konsum. Vor allem dieser, aber jeder anderen Person empfehle ich dieses Theaterstück unbedingt.

“EVER GIVEN” im Volkstheater wird noch an folgenden Terminen gespielt:
01.03.2025 19:30 Uhr
02.03.2025 19:30 Uhr
03.03.2025 19:30 Uhr

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