KNISTER*KRITIK: Medeas Kinder – gut geleitete Gewalt 

Sujet Medeas Kinder (c) Estate of Bernard Safran, MEDEA, oil on masonite

Das Programmheft lesend versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, was nun auf der Bühne geschehen wird: Die antike Geschichte der Medea, aus Perspektive der Kinder – aber irgendwie auch nicht. Ich lese, dass Milo Rau (Regie und Intendanz) bereits zuvor einmal mit Kindern ein anderes Thema aufgegriffen hat, in dem er ebenfalls einen realen, zeitgenössischen Kriminalfall integriert hat. Leichte Verwirrung – welcher reale Fall ist wie der Fall Medea?  Meine Begleitung rattert kurz die Handlung herunter:

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Worum geht`s?

Medea heiratet Jason, der sie verlassen möchte, und aus Rache ermordet sie die gemeinsamen Kinder. Aber nicht nur Medeas Geschichte endete tragisch, sondern auch die Geschichte einer realen belgischen Frau: Sie ermordete ihre 5 Kinder. 

Mythos als Realität 

Auf der Bühne werden schließlich vor dem Vorhang Stühle aufgestellt. Milo Rau, der Regisseur und diesjährige Intendant der Festwochen, teilt uns mit, dass eines der Kinder leider krank geworden ist und heute nur fünf Kinder anstatt der eigentlichen sechs spielen.   

Medeas Geschichte, der reale Kriminalfall und das Theater als Erkundungsraum für alle Themen wird eröffnet. Die Bühne zeigt einen großen weiten Sandstrand mit einem kleinen Strandhaus. Die Kinder berichten über ihre Theatererfahrungen und spielen die Szenen selbst nach, von denen sie uns davor erzählt haben. 

(c) Michiel Devijver / Wiener Festwochen

Das Ganze kulminierte in der sehr grafischen, langsamen und groß auf die Leinwand projizierte Nachstellung der Ermordung der 5 Kinder. Eines der Mädchen spielte die mordende Mutter, die die Kinder in das kleine Strandhaus auf der Bühne brachte, während der Kindercoach die Kameras sehr nahe auf die sterbenden Kinder hielt. Viel Blut ist geflossen, es wurde sogar eine pulsierende und blutende Halsschlagader nachgestellt und in Großaufnahme auf die Wand projiziert – an dieser Stelle Hochachtung an die Maske.

(c) Michiel Devijver / Wiener Festwochen

Ein emotionales Schwanken zwischen „Wow, diese Kinder spielen toll!“ und „Wow warum schauen wir das an?“: Emotional konnte ich mich teilweise retten, indem ich mich auf die technischen Gegebenheiten, Kameraführung und eingespielten Videos konzentrierte. Um diesen emotionalen deprimierenden Druck zu nehmen, werden nach einzelnen Szenen die Kinder immer wieder von einem Erwachsenen auf der Bühne gelobt, der auch ihre Kinderbetreuung ist. Anders wäre es auch, glaube ich, nicht gegangen – vor allem für das Publikum. 

Brutalität aus Kinderhand 

Die Leichtigkeit der Kinder, ihre Perspektive und das regelmäßige Aussteigen aus den intensiven Szenen – ein wahrhaft emotional aufreibender spannender Abend. Mit sehr gemischten Gefühlen sind wir schließlich nach Hause  gegangen, alle mit einem einzigen  Gedanken im Kopf: Gott sei Dank, dass heute eines der Kinder krank war – sonst hätten wir noch einen weiteren langsamen Tod in voller Auflösung miterleben müssen.  

Zusammengefasst ist das Stück wirklich sehr zu empfehlen, vor allem durch den interessanten, neuen Ansatz, die Geschichte aus Perspektive der Kinder zu erzählen. Dadurch wird ein neuer Zugang aufgemacht, plastischer und (wer hätte gedacht, dass das geht) dramatischer – aber es ist wirklich nichts für leichte Gemüter. 

Sprache: niederländisch, Übertitel: deutsch, englisch
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Team On- und Offstage:

Mit Peter Seynaeve / Lien Wildemeersch, Jade Versluys / Bernice Van Walleghem, Gabriël El Houari / Aiko Benaouisse, Emma Van de Casteele / Helena Van de Casteele, Sanne De Waele / Ella Brennan, Anna Matthys / Juliette Debackere, Vik Neirinck / Elias Maes
Regie Milo Rau, Dramaturgie Kaatje De Geest, Video Moritz von Dungern, Licht Dennis Diels, Kostüm Jo De Visscher, Bühne ruimtevaarders

Mehr zum Stück gibt’s hier.

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