KNISTER*KRITIK: Carmen – Rauchen verboten, Femizid erlaubt.

Kritik*Carmen in Neonschrift vor verpixelten Opernlogen und Fotos aus Carmen

Der Abend in der Volksoper Wien beginnt mit einer ungewöhnlichen Durchsage: Aus rechtlichen Gründen darf Zigarettenrauch nicht gezeigt werden. Man könnte ja das Publikum negativ beeinflussen. Aber zum Glück ist das Zeigen von Femiziden noch erlaubt. 

Zusammengefasst: Super für Newbies, Einsteiger & alt-eingesessene Opern-Nerds.

Die Oper Carmen von Georges Bizet ist die perfekte Einsteiger-Oper. Die Musik ist schön und hat ein gutes Tempo, die Handlung simpel: Carmen ist eine wunderschöne, selbstbewusste Frau, macht was sie will mit wem sie will und wird aus Eifersucht ermordet. Die Inszenierung ist gut zu verstehen, eine Mischung aus traditionell & modern und baut aktuelle Themen rund um sexuelle Belästigung und toxische Beziehungen ein. Es wurde definitiv nicht langweilig.

Weg vom Schönheits-Stereotyp!

Haus-Chefin Lotte de Beer hat sich mit dieser Inszenierung etwas Neues überlegt: „Carmen ist nicht nur aufgrund ihres Aussehens etwas Besonderes, da steckt noch mehr dahinter!“. Wie wäre es sonst möglich, dass sie von den anderen Bewohner*Innen Sevillas, einer kleinen Stadt in Spanien, so bewundert wird? Carmen hebt sich in dieser Inszenierung vom klassischen “Schönheits”-Stereotyp ab. Sie weiß, dass sie nur eine Figur in einer Oper ist. De Beer lässt Carmen die vierte Wand brechen, mit dem Publikum sprechen, in Opernlogen klettern, um die Handlung aus “unserer” Sicht zu sehen und Vorhänge wie magische Werkzeuge benutzen, um das Bühnenbild zu verändern.

Apropos Bühnenbild: So geht moderne Inszenierung vermischt mit Tradition und dem Original. De Beer spielt mit dem, was wir mit „altem“ Theater verbinden und baut das spanische Dorf Sevilla aus zweidimensionalen, handbemalten, verschnörkelten Bühnenbildern – die von Carmen kurzerhand umgedreht werden, wenn sie das Dorf ärgern will. Kein schwarzer Kasten, wo wir mit viel Fantasie das Umfeld erraten und erst Interviews zum Sinn lesen müssen, sondern simpel, selbsterklärend und trotzdem ständig anders und modern. Es gibt auch ein paar Überraschungen, wie zum Beispiel tanzende Stierkämpfer in bunten, glitzernden Anzügen oder einem großen, glitzernden Sternenhimmel im Hintergrund.

Die Kostüme könnten aus einem (teurem) Kostümverleih sein: Elegante blau-rote Militär-Uniformen, lange Kleider mit vielen Schichten unterm Rock für die Damen, die im Stück dargestellte „Zigeunerbande*“ mit lockeren Hemden und kürzeren Röcken. Außer Carmen: Denn sie reißt sich ganz am Anfang schon ihr Kostüm herunter, um den Rest des Abends im schwarzen Jumpsuit zu verbringen. 

Anm. der Redaktion: Heute sagt man Sinti und Roma. Die Darstellung dieser Gesellschaftsgruppe ist in der Oper generell, so wie alles, sehr stereotypisch.

Der Tod ist (k)ein Ausweg und nicht zu vermeiden.

Das Besondere an dieser Inszenierung? Carmen weiß nicht nur, dass sie eine Figur in einer Oper ist – im Lauf des Abends versteht sie, dass ihr Tod unausweichlich ist. Ihr erster Lover des Abends, der Soldat Don José, sorgt mit seinem toxischen Verhalten und Wutausbrüchen für ein ungutes Gefühl im Bauch der Zuschauer*Innen. Der zweite, der Stierkämpfer Escamillo, zwingt sie in eine Hausfrauenrolle und behandelt sie wie eine persönliche Dienerin.

Es sind die zwei Extreme unserer Gesellschaft, wenn es um die Position und Rechte für Frauen* geht. Selbstbewusst und frei, aber dafür abhängig von der Selbstkontrolle eines Mannes, oder Hausfrauen-Dasein, nur noch da, um dem Mann zu dienen. Die Realität besteht natürlich nicht nur aus diesen zwei Extremen und jede*r darf selbst über das eigene Leben entscheiden – und nein, es sind nicht alle Männer. Die Oper zeigt jedoch sehr gut beide Extreme und die damit verbundenen Probleme auf und bringt Zuschauer*Innen in die unangenehme Lage, hinschauen zu müssen und nicht eingreifen zu können.

Carmen liegt tot auf einer Bühne auf der Bühne, umringt vom Chor, der Blumen auf sie wirft und applaudiert
Carmen / Volksoper Wien (c) Barbara Pálffy

Das Ende ist unvermeidbar: Carmen muss sterben. Sie ist zu frei, zu anders, weiß zu viel, macht zu sehr ihr eigenes Ding. Das Publikum (=Chor auf der Bühne) verhindert ihre Flucht und sie wird vom eifersüchtigen Don José erstochen – doch nicht, bevor sie ihn in einer letzten selbstbewussten Handlung dazu auffordert. Das Publikum ist glücklich, die Welt ist wieder in Ordnung – denn wo kämen wir hin, wenn wir unser Leben selbst entscheiden würden?

Und wie waren Gesang & Musik

Zum Schluss noch etwas zum Gesang und zur Musik (Vorstellung: Dienstag, 24.09.2024): Katia Ledoux (Carmen) hört man mit Leichtigkeit in jedem verwinkelten Eck des Zuschauerraums und über die lautesten Stellen des Orchesters, ohne dass es je “zu laut” wäre. Iulia Maria Dan (Micaëla) spielt die perfekte Unschuldige, Alexandra Flood (Frasquita) und Sofia Vinnik (Mercédès) überzeugen beim Tarot-Kartenlegen – alle drei treffen mit ihrer Stimme mitten ins Herz. Im Vergleich wirkte Tomislav Mužek (Don José) schwächer und vor allem leiser, auch wenn stimmlich immer noch top. Gerade die Eifersuchtsszenen waren sehr überzeugend gespielt und hinterlassen Gänsehaut. Josef Wagner (Escamillo) spielt den perfekten Stierkämpfer, voller Eitelkeit und Selbstbewusstsein – auch stimmlich stabil. Dirigent Ben Glassberg führt das Orchester der Volksoper Wien gut durch den Abend. Zu Beginn muss sich das Ohr erst an die generelle Lautstärke der Oper gewöhnen, dementsprechend hätte die Musik speziell beim Kinderchor etwas leiser sein können. Alles in allem ein gelungener Abend!

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