Wusstet ihr, dass in vielen berühmten Kunstmuseen weniger als 3% der Werke von Frauen stammen, aber über 80% der Aktdarstellungen weiblich sind? Das mumok in Wien hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Lücke zu schließen und nun endlich Künstlerinnen ins Rampenlicht zu rücken. Aktuell widmet es eine Ausstellung Liliane Lijn, einer Feministin und Pionierin der kinetischen Kunst, die mit Licht, Bewegung und Poesie nicht nur unsere Sicht auf Kunst, sondern auch auf Geschlechterrollen revolutioniert. Ein Streifzug durch die Ausstellung bietet faszinierende Einblicke – selbst für Kunst-Neulinge.
Gustav Klimt, Picasso, Leonardo da Vinci… Wenn ihr an den Kunstunterricht zurückdenkt: Wie viele Künstlerinnen sind euch dort begegnet? In der klassischen Kunstgeschichte sind es nämlich vor allem Männer, die als bedeutende Künstler gelten. Um die Lücke im Kunstkanon – also der Liste von Künstlern und Werken, die von einer längst vergangenen Generation „weißer alter Männer“ bestimmt wurde – zu schließen, widmet sich das mumok nun besonders der Förderung von Künstlerinnen.
Mit 84 Jahren im mumok: Who is Liliane Lijn?
Mit Liliane Lijn präsentiert das mumok heuer eine der faszinierendsten feministischen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts und dennoch handelt es sich um die allererste umfassende Einzelausstellung in einem Museum der heute 84-jährigen Künstlerin. Die Ausstellung spannt einen beeindruckenden Bogen über ganze 60 Jahre ihres Schaffens und macht die Vielseitigkeit ihrer Arbeit erlebbar. Lijn ist bekannt für ihre interdisziplinäre Herangehensweise, in der sie Kunst, Technologie, Wissenschaft und Poesie miteinander verbindet. Ihre Werke hinterfragen traditionelle Geschlechterrollen, beleuchten weibliche Perspektiven und setzen Themen wie Identität und Macht ins Zentrum.
Lijn wurde 1939 in New York als Tochter einer aus Europa geflohenen jüdischen Familie geboren. In den 1950er Jahren zog es sie dann ins pulsierende Zentrum der Kunstszene: nach Paris. Dort studierte sie Kunstgeschichte und Archäologie und ließ sich von der Pariser Avantgarde, südostasiatischer Kunst sowie alten Meistern wie Hieronymus Bosch inspirieren. Diese Eindrücke prägten ihren Ansatz, an den Schnittstellen von bildender Kunst, Sprache und Wissenschaft zu arbeiten.
Die Ausstellung im mumok zeigt eine Vielfalt an Medien: von Zeichnungen und Collagen über kinetische Skulpturen bis hin zu Installationen. Besonders spannend: Viele der motorisierten Werke sind so programmiert, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten aktiv werden. Dadurch entsteht ein einzigartiges, individuelles Ausstellungs-Erlebnis, das dazu einlädt, mehrfach in die dynamische Welt von Liliane Lijn einzutauchen.
Spoiler vorweg:
Mein Highlight der Ausstellung ist der separate Raum, in dem Lijns Cosmic Drama präsentiert wird. In der Dunkelheit begegnen sich dort zwei eindrucksvolle Skulpturen: Lady of the Wild Things (1983) und Woman of War (1986). Diese treten in einen spannungsgeladenen Dialog miteinander. Die Lady of the Wild Things, eine frühe Schutzgöttin der Natur, reagiert mit Lichtsignalen auf die Warnungen der kriegerischen Woman of War. Begleitet wird diese Interaktion von Lijns eigener Stimme, die in eindringlichem, wütendem Gesang die Menschheit warnt.
In dieser Installation verschmelzen das Kosmische und das Persönliche, Mythologie und High-Tech, um weibliche Archetypen in eine zeitgenössische Form zu überführen.
Achtung: Deep Dive! Was ist eigentlich kinetische Kunst?
Kinetische Kunst ist eine Form der Skulptur und Objektkunst, die Bewegung mithilfe mechanischer oder elektrischer Antriebe integriert, wodurch sie wissenschaftliche und technische Prinzipien künstlerisch umsetzt.
Kurz gesagt: Kunst + Technik/Physik = Wissenschaft auf spannend im Museum.
Ihre Ursprünge reichen bis in die 1920er Jahre zurück, etwa zu Werken von Marcel Duchamp, die Bewegung und oft auch Licht als zentrale Elemente nutzten. Geprägt von unterschiedlichen Einflüssen erreichte diese Kunstform ihren Höhepunkt in den 1930er bis 1960er Jahren mit abstrakten Mobiles von Alexander Calder und Gruppen wie ZERO oder der Groupe de Recherche d’Art Visuel.
Aufgewachsen in einem vielsprachigen Umfeld, entwickelte Lijn früh ein feines Gespür für Sprache und Poesie. Und doch scheint sie dem geschriebenen Wort keine große Aufmerksamkeit zu schenken. In ihren „Poem Machines“ bringt sie Wörter in mechanische Bewegung, um sie von festen Bedeutungen zu lösen. Die Zylinder drehen sich so schnell, dass die darauf gedruckten Worte kaum lesbar sind – eine bewusste Einladung, Sprache anders wahrzunehmen. Für Lijn entstehen durch gesprochene Worte spezifische Schwingungen, die Energie freisetzen. Wie sie selbst sagt: „The main concern of my work has been and is ‘energy transfer’.”
Liliane Lijns Feministische Neuverhandlung von Körper und Kosmos
Seit Beginn ihrer Künstlerinnenkarriere nutzte Liliane Lijn Technologie und Wissenschaft als Werkzeuge, um in Bereiche vorzudringen, die für das Auge unsichtbar sind. Für sie ist dies bewusst ein feministisches Unterfangen: Indem sie Sprache und Körper in Vibration, Licht oder Klang verwandelt, stellt sie patriarchale Strukturen infrage und wehrt sich gegen die Reduzierung der Frau auf ihren Körper.
„The artist, at all times an outsider, is as a woman an outsider even among artists.”
Besonders beeindruckend sind in diesem Kontext ihre überlebensgroßen Frauenskulpturen, die sogenannten „Female Figures„, die sie ab 1979 schuf. Durch ihre bodennahe Platzierung treten diese Werke in einen unmittelbaren Dialog mit den Betrachtenden. Lijn wählt dafür bewusst industrielle Materialien wie Aluminium und Stahl, die traditionell als „männlich“ wahrgenommen werden, und kombiniert sie mit „weichen“ oder „weiblichen“ Materialien wie Federn und synthetischen Bürstenfasern: Eine Anspielung auf die Rollenzuschreibung der Frau?
Lijns Werke spielen geradezu mit der Gegenüberstellung genderspezifischen Materialen. Auch die Glasprismen als Köpfe der Figuren brechen nicht nur das Licht und spalten es in die Farben des Regenbogens. Sie brechen zudem die geschlechterspezifischen Zuschreibungen und setzen sie neu zusammen.
Mein Fazit?
Auch wer noch nie von Liliane Lijn gehört hat, wird von ihrer Kunst sofort in den Bann gezogen. Ihre Werke bieten so viel zu entdecken, dass man auch ohne tiefes Kunstwissen spannende Eindrücke sammelt. Besonders faszinierend sind die beweglichen Installationen und kleinen „Theaterstücke“, die in den verschiedenen Räumen gezeigt werden. Sie geben einen mitreißenden Einblick in Lijns kreative Arbeit und machen es nahezu unmöglich, wegzuschauen. Ein echtes Highlight sind die „Poem Machines“: Schon der Versuch, sie zu „lesen“, fühlt sich an wie das Entschlüsseln von Lijns Gedanken und ihrer Kunst.
Wie bei allen Ausstellungen im mumok gibt es auch zu „Liliane Lijn. Arise Alive“ ein Begleitheft mit vielen Informationen. Allerdings ist es durch die Fachbegriffe nicht immer leicht zugänglich. Trotzdem lohnt sich ein Blick hinein – es erweitert die Perspektive auf Lijns faszinierende Werke. Für Besucher*innen, die weniger Zeit haben oder sich nicht so sehr mit Kunst beschäftigen möchten, empfiehlt es sich, den Fokus auf die beweglichen Installationen zu legen. Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Etagen und kann somit ein wenig überwältigend wirken.
Bildquellen:
- Liliane Lijn with „Liquid Reflections“, 1969, Photo © Jorge Lewinski, Bildrecht, Wien 2024 ↩︎
- Conjunction of Opposites: Woman of War and Lady of the Wild Things, 1983–86
Installation, zwei Mixed-Media-Performance-Skulpturen / Installation of two mixed media performing sculptures, 400 x 800 x 400 cm
Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus
Photo: Thierry Bal © Bildrecht, Wien 2024 ↩︎ - Peggy Guggenheim Collection, Venice – Photo © Andrea Sarti ↩︎
- Four Figures of Light, 1978
Installation, optisches Glaskörper-Prisma
Courtesy Liliane Lijn and Sylvia Kouvali, London / Piraeus
Photo: Georg Petermichl / mumok © Bildrecht, Wien 2024 ↩︎ - Get Rid of Government Time, 1962
Letraset auf lackierter Metalltrommel, Kunststoff, lackiertes Metall, Motor, Text aus einem Gedicht von Nazli Nour / Letraset on painted metal drum, plastic, painted metal, motor, words from a poem by Nazil Nour, 35 x 38,2 x 35 cm
Courtesy Stephen Weiss, London Photo: Richard Wilding © Bildrecht, Wien 2024 ↩︎