My Fair Lady – Volksoper ** Cinderella, Titanic & Pretty Woman in einem.

Es ist ein Stück, das nicht altern kann. Zum Glück, denn sonst wäre das echt schief gegangen. „My Fair Lady“ ist quasi „Pretty Woman“ aber noch älter – wobei man fast behaupten könnte, dass hinter der verstaubten, konservativen Handlung, sogar ein bisschen „wokeness“ versteckt ist. Coincidence? I think not!

Die erste Hälfte des Musicals ist, ehrlicherweise, frustrierend. Wer als Millennial mit lauter Selbstreflexion und Red Flags im Umfeld aufgewachsen ist, wird sich die erste Stunde lang oft an den Kopf greifen. Aber beginnen wir am Anfang:

Worum geht’s?
Musical von Frederick Loewe & Alan Jay Lerner (1956 geschrieben), in deutscher Sprache mit englischen Übertiteln

London, 1912: Die Blumenverkäuferin Eliza Doolittle trifft auf den Sprachforscher und Langzeit-Junggesellen Professor Higgins und seinen Freund Oberst Pickering. Higgins und Pickering schließen eine Wette ab: Wenn Higgins mit seinem Wissen über die englische Sprache Eliza innerhalb von drei Monaten zu einer Dame verwandelt, die sogar die High Society Englands täuschen kann, gewinnt er und Eliza bekommt 70 Pfund, um ein neues Leben zu starten. Wenn er die Wette verliert, könnte sie sogar im Tower of London landen und ihr Leben verlieren… Aber so weit kommt es nicht. 

Wer die Zungenbrecher aus dem Musical ausprobieren will: Die Volksoper hat es mit dem Ensemble ausprobiert, nachmachen ist empfohlen!

Leichte Unterhaltung, nichts dahinter?

Die Wiederaufnahme von „My Fair Lady“ in der Volksoper Wien überzeugt gleich zu Beginn mit einem schönen Bühnenbild und klassischen Kostümen. Kein schwarzer Kasten, kein modernes Zeug, kein Platz für Interpretation worum es gehen könnte. Es ist eine schöne Musik mit gutem Tempo (was selten ist bei deutschen Übersetzungen) und die Choreografien sehen nach Spaß aus.

Wir befinden uns, ohne Frage, in London vor (für uns) sehr langer Zeit. Wann genau, musste ich nachlesen – 1912 (hier hätte ich mir tatsächlich einfach irgendwo ein Schild gewünscht, damit man sich gleich auskennt). Die High Society ist hergerichtet wie die reichen Gäste auf der „Titanic“, in edlen Kleidern, großen Hüten, Zylindern und Lackschuhen. Die „Unterschicht“ sticht durch eintönige, grau-beige Kleidung, nicht frisierte Haare und einen deftigen Dialekt hervor. 

Arm vs Reich (c) Volksoper, Barbara Pálffy

Es grünt so grün wenn Millennials mit ihrer „Wokeness“ struggeln

Und doch: Meine „Wokeness“, wie sie manche nennen würden, lässt mich nicht wirklich ruhig sitzen. Durch die schöne Fassade und die leichte Unterhaltung lassen sich eigentlich wichtige Themen erkennen, die mit einer ordentlichen Portion Humor (und offensichtlichem Sexismus) vermittelt werden:

Gesellschaftliche und strukturelle Abhängigkeiten (Unausgebildete Blumenverkäuferin vs. Gebildete Adelsgesellschaft), Rassismus bzw. Klassismus (Reich vs. Arm), problematische Familienstrukturen (Alkoholiker-Vater, der von Eliza finanziert werden muss), und toxische Männlichkeit („Kann eine Frau nicht sein wie ein Mann, so ehrlich?“). 

„Eine Frau, die derart abstoßende und widerwärtige Äußerungen von sich gibt, hat kein Recht, irgendwo zu sein, ja kein Recht zu leben!“ (Higgins zu Eliza)

Durch Professor Higgins bekommt Eliza erstmals Einblick in eine ihr komplett neue Welt (er ist quasi ihre Fairy Godmother und sie Cinderella). Sie selbst, ihr Interesse, ihre Bildung und ihr Dasein werden zum ersten Mal gefördert. Gleichzeitig steckt Eliza deswegen in einer Zwickmühle: Sie will die zwei Herren nicht enttäuschen und hat Angst, ihre Chance auf eine bessere Zukunft zu verlieren, wenn sie nicht alles mitmacht, was von ihr verlangt wird. 

„Ihr seid mir zwei richtige kleine Kinder, die mit einer lebenden Puppe spielen.“ (Mrs. Higgins zu Higgins und Pickering)

Die richtige Haltung (c) Volksoper, Barbara Pálffy

Gegen Ende der ersten Hälfte kommt *ENDLICH* Elizas wahrer Charakter wieder zurück. Sie singt ein starkes Lied gegen Higgins, indem sie ihm alles heimzahlt, was er sie erleiden lässt. Endlich ist es ihr zu viel und ihre Verweigerung, ihr Trotz, ihre Willensstärke kommt zurück. 

„Warum haben sie mir meine Unabhängigkeit genommen? Warum gab ich sie auf? Jetzt bin ich eine Sklavin, trotz all meiner schönen Kleider.“ (Eliza)

Und die zweite Hälfte macht jede Verzweiflung, die man als Zuschauer*In davor empfunden hat, wieder wett: Eliza macht den Zirkus zwar noch mit, bis sie endlich den Diplomatenball bewältigt hat ohne als Lügnerin aufzufliegen, doch dann wird ihr die Ignoranz der Herren zu viel – denn die zwei Herren prahlen, was für großartige Arbeit sie nicht geleistet hätten und gratulieren sich gegenseitig zur gewonnenen Wette – während Eliza still und fassungslos am Sofa daneben sitzt. 

Ein englisches Musical in deutscher Sprache

Das Musical lebt von der Schwierigkeit der Sprache. In England spielt es eine große Rolle, auf welcher Universität man studiert hat. Jemand, der nicht das gehobene Englisch des Königshauses spricht, kommt nicht ins Parlament oder auch nur in die Nähe der High Society (siehe Bridgerton oder The Crown). In Österreich ist das nicht so: Selbst mit dem tiefsten Tiroler Dialekt kann man Bundespräsident werden (wenn auch mit Verständnisschwierigkeiten am Weg dort hin). Man braucht kein „sauberes Hochdeutsch“, um in unserer Gesellschaft „etwas zu sein“. 

Oft geht der Humor und der englische Witz verloren, wenn etwas ins Deutsche übersetzt wird. In dieser Übersetzung von „My Fair Lady“ ist es allerdings recht gut gelungen, den Schmäh ebenso wie das Tempo (halbwegs) beizubehalten. Und trotzdem: Mir haben Untertitel gefehlt. Denn gerade in einem Stück, wo die Sprache so eine große Rolle spielt, ist es schade, wenn man das Gesungene akustisch einfach nicht versteht. Allerdings war das anscheinend eine Besonderheit der Aufführung am 27.12., normalerweise gibt es englische Übertitel (it’s something). 

✨ „My Fair Lady“ ist generell ein guter Einstieg, wenn man noch nie im Musical war und sich ein bisschen an die Musik herantasten will. Denn in der Volksoper wurde viel mit Sprechgesang gearbeitet, einer Mischung aus gesungenen und gesprochenen Passagen – ob es an den Stimmen, der Akustik oder der Inszenierung lag, who knows, aber es war gut.

Absolut zeitgemäß & woke – auch wenn alt & verstaubt.

Durch die Kostüme und das Bühnenbild wurde das Musical bewusst in der Vergangenheit belassen – und das passt auch so, denn diese Art von Humor würde heute nicht mehr funktionieren. Oberflächlich betrachtet ist es eine seichte Unterhaltung mit einer ordentlichen Portion Sexismus (fair enough, immerhin spielt die Handlung 100 Jahre in der Vergangenheit). 

„Jeder Gedanke den du hast, jeder Satz den du sprichst, hab ich dir eingepflanzt!“ (Professor Higgins)

High Society (c) Volksoper, Barbara Pálffy

ABER: Eine nicht unwichtige Änderung in der Wiederaufnahme macht das Musical aktueller denn je. Der eigentliche Schluss von „My Fair Lady“ zeigt, wie Eliza zu Professor Higgins zurückkehrt (nachdem er ihr basically gesagt hat, dass sie ohne ihn nichts wert ist). Das Schlussbild zu streichen, bedeutet zwar auch, dass Text und Musik fehlen – aber es gibt dem Stück die Chance, Relevant zu bleiben. 

So war die erste Hälfte die Darstellung von extremer toxischer Männlichkeit, der Überheblichkeit der Elite und oberen Gesellschaftsschicht gegenüber „dem Rest“ und der gesellschaftlichen und persönlichen Abhängigkeiten aufgrund von Bildung oder Berufsstand. Durch das fehlende Schlussbild zeigt die zweite Hälfte den Themen der ersten Hälfte den Mittelfinger. Es ist wie ein „Danke für alles, was du mir gegeben hast, aber ich kann auch ohne dich und bin mehr als deine Gedanken“. 

„Wissen Sie, abgesehen von dem, was jeder sich aneignen kann – Kleidung, einwandfreie Aussprache und so weiter –, ist der Unterschied zwischen einer Dame und einem Blumenmädchen wirklich und wahrhaftig nicht, wie sie sich benimmt, sondern wie man sie behandelt.“ (Eliza)

Ein Fazit?

Ohne, dass man irgendwas dazu erfinden müsste, ist das Musical „My Fair Lady“ eigentlich eine Geschichte über Emanzipation, Selbstverwirklichung und Empowerment. Über das Loskommen von toxischen Beziehungen und die strukturellen Probleme unserer Gesellschaft. Und das sogar, ohne dem Ganzen den „Wokeness“-Stempel aufzudrücken, denn das ist einfach die Handlung.

Natürlich könnte man „My Fair Lady“ auch modern inszenieren und eben diese Themen in den Fokus stellen. That being said: Gut, dass es nicht so ist. Denn so kann man sich das Stück anschauen, schmunzeln, lachen oder sich ans Hirn greifen, wenn die Herren (oder Eliza) sich deppert anstellen und am Ende happy aus der Oper spazieren. Im Hinterkopf bleibt nämlich trotzdem alles hängen. Die Aufregung, dass Eliza alles über sich ergehen hat lassen ohne sich zu wehren. Oder die Fassungslosigkeit über die Empathielosigkeit von Higgins und Pickery.  

Durch die Wiederaufnahme der alten Inszenierung ist es eben keine „Attacke der woken linken Generation“, sondern, sehr simpel, ein lustiges und gleichzeitig überraschend realistisches Stück. Denn wir alle waren schon einmal in ähnlichen, wenn auch harmloseren Situationen, in denen wir erlebt haben wie Machtverhältnisse ausgenutzt oder Menschen aufgrund ihres sozialen Status schlecht behandelt wurden. 

Ganz ohne Wokeness ging es wohl selbst damals nicht. 

Eliza, Mrs Higgins und Prof Higgins (c) Volksoper, Barbara Pálffy

Jammern auf hohem Niveau: Kritik zur Aufführung am 27.12.

Paula Nocker als Eliza Doolittle hat mit ihrer Ausstrahlung sowie mit ihrer Stimme sehr überzeugt. Man hat sich richtig mitgefreut, als sie sich endlich zur Wehr setzt – und ihren eigenen Weg geht. Sie bringt die Emotionen und den Zwiespalt zwischen Sturheit, Demut, Liebe und am Ende ihr neu-erlangtes Selbstbewusstsein perfekt rüber. Favoritin des Abends war Mrs. Higgins, Mutter von Professor Higgins, gespielt von Marianne Nentwich. Selbst geflüsterte Worte und die teils wortlose Empörung waren bis in die letzten Reihen hörbar. 

Im Vergleich zu den Damen haben die Herren ein bisschen geschwächelt: Karl Markovics (Alfred P. Doolittle, Elizas Vater) hat speziell die gesungenen Worte manchmal verschluckt – oder sie sind aufgrund der Lautstärke untergegangen. Allerdings hat er unfassbar lustig den betrunkenen Vater ohne jegliche Moral gespielt und seine Performance hat alles wieder wett gemacht. Markus Meyer und Manuel Rubey haben auf der Bühne das perfekte Paar gebildet: Meyer als der leicht entnervte Prof. Higgins, dem man sehr schnell angesehen hat, wenn er kurz davor war zu explodieren. Rubey bildete das aufheiternde, motivierte Gegenstück – der sich nie zu schade ist, wenn es darum geht, Lacher aus dem Publikum zu ernten. Doch auch sie sind manchmal in ein Nuscheln verfallen, was ebenso zu Verständnisproblemen geführt hat. Alles in allem aber wirklich Jammern auf hohem Niveau – denn normalerweise gibt es ja die Übertitel, die beim Verständnis zusätzlich helfen. 

Insgesamt war es musikalisch wie tänzerisch ein guter Abend. Die Choreografien sind gesessen (bis auf die Tatsache, dass man den einen Ballettänzer in einer Reihe von Männern einfach sofort erkennt) und der Chor hat eine super Leistung abgeliefert. Mein einziger Wunsch: Dass bei den Chorstellen der Rest der Menschen auf der Bühne wenigstens die Münder mitbewegen. Das war dann schon ein bisschen komisch, dass man sich plötzlich gewundert hat, woher denn eigentlich der Gesang kommt. 

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