Während die Staatsoper Wien auf den psychedelischen Effekt mit farbenfrohem Bühnenbild, Kostümen und Video-Screen setzt, behält sich das Theater an der Wien die Realität und Aktualität. Zwei Opernhäuser, zwei Mal Vincenzo Bellinis “Norma” in Wien.
Womit kann eher aufgetrumpft werden? Mit großen Namen oder schönen Stimmen? Normalerweise, so steht’s geschrieben, SIND ja die großen Namen die schönen Stimmen. Im Fall der „Normas in Wien“ merkt man aber, dass sich dieses Prinzip nicht mehr ganz hält.
Zwei Opernhäuser, eine Starbesetzung
Publikumsliebling Juan Diego Florez schimmert in der Staatsoper Wien nur semi-gut mit seiner gepressten Stimme, während Freddie De Tommaso am Theater an der Wien (kurz: TadW) als Pollione besser überzeugen kann. Ein Glück also, dass in den folgenden Staatsopern-Vorstellungen De Tommaso vom TadW über wechselt und somit den von Florez vorgelegten Pollione gesanglich etwas steigern wird.

Auch in den Frauenstimmen siegte das TadW über die glanzvolle Staatsoper. Grundsätzlich gilt: Wer Norma singen kann, muss alles geben. Es gibt kaum eine bessere Gelegenheit, Gesangstechnik, stimmliche Flexibilität und allen voran die tiefen Gefühle der Norma zu vermitteln und sie fürs Publikum greifbar zu machen. Und an beiden Häusern wurde das Potenzial der Rolle mit den Besetzungen zu 100% ausgeschöpft. Staatsopern-Norma Frederica Lombardi hat mich vom Hocker gehauen, Asmik Grigorian am TadW ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ein Aufsatz, der nur den Lobpreisungen Grigorians gewidmet ist, würde nicht ausreichen, dieses Gesangserlebnis zu beschreiben. Man muss sie gehört und gesehen haben.
Staatsopern-Norma ist ein Girl’s Girl, Norma am TadW ist eine reale Person.
Ein Girl’s Girl zu sein scheint gerade in zu sein. Ist ja auch wichtig, aufrichtig zu handeln und sich zu unterstützen. Doch irgendwas an diesem Girl’s Girl-Getue passt nicht ganz. Ist das wirklich alles so echt? Zu dieser Einstellung gehört eine große Portion Support, Liebe und Verständnis, aber ist das nicht manchmal etwas zu viel des Guten? Entfernt man sich denn dann nicht schon wieder von der Realität, von den eigenen wahren, tiefen, stechenden Gefühlen? In Zeiten von ‚We listen and we don’t judge‘ ist es zwar leicht, Geheimnisse ans Tageslicht zu lassen, aber real ist das Ganze nicht. Es ist die Wahrheit, manchmal kein Verständnis zu haben, es ist sogar wichtig. Und das zeigt Grigorian als Norma am TadW ganz besonders.

Die Stimmung, mit der sie auf die Bühne kommt (ich finde fast keine Worte, um das Erlebte zu beschreiben), ist unfassbar. Ihre körperliche und emotionale Spannung (sie gab den Jubelstürmen, die ihren solistischen Gesangspartien folgten, nie nach), die Energie, ihr Gesichtsausdruck, ihre Bewegungen und die glasklare Verletztheit in ihrer Stimme stechen den Zuhörenden wie klitzekleine Messerstiche mitten ins Herz. Grigorian spiegelt die emotionale Situation, als die Wahrheit über die Untreue ihres Partners über sie hereinbricht, so gut wider, dass es kaum realer erscheinen kann.
Im Gegensatz zur Staatsopern-Norma ist TadW-Norma näher am Pragmatismus. Aber die eigene Einsamkeit, Unsicherheit, Trauer und ihr unglücklicher Zwiespalt bezüglich der verkorksten Familiensituation hängt immer wie ein Schleier über ihrer Erscheinung. Sie verkörpert also genau Eines: das Menschliche.

Mystik vs. Realität
Beim Bühnenbild (Staatsoper: Valérie Grall/Theater an der Wien: Zinovy Margolin) gibt es gewaltige Unterschiede, wie auch in der Inszenierung (Staatsoper: Cyril Teste/Theater an der Wien: Vasily Barkhatov). Die in den Himmel der Staatsoper (aka der Schnürlboden) ragenden Steinruinen des Druidentempels zeigen die Streckung der Handlung in andere Sphären -ins Surreale, Künstlerische, vielleicht sogar Psychedelische. Die Ruinen dienen auch der Opferungszeremonie, um das ganze Spiel noch mehr in Richtung Trance und Opferung zu tragen. Videografische Momentaufnahmen, die Teste gezielt bei Schlüsselmomenten (wie das Verlangen Normas, ihre Kinder ihres Lebens zu erlösen) lassen die Handlung wie durch einen Schleier etwas abgedämpft wirken.
Am Theater an der Wien ist alles anders. Fabrik, Härte, Realität. So begrüßt das Bühnenbild die Zuseher*innen schon mit versammeltem Arnold-Schönberg-Chor als Fabriksarbeiter*innen an ihrem Arbeitsplatz munter beim Geschwätz. Lockere Atmosphäre, bis Grigorian die Bühne betritt und schlagartig die Stimmung verändert. Unglaublich, wie eine Person alles umwerfen kann, wie eine Person so viel von der Inszenierung trägt und sie zu dem macht, was sie ist.

Rezeption: Was sagt das Publikum?
Keines der beiden Häuser kann sich beklagen. Die tosenden Beifallsbekundungen konnte man vermutlich sowohl am Naschmarkt als auch im gemütlich vorbeituckernden D-Wagen am Opernring noch hören. Sitzt man in der Staatsoper, ist man im Glauben, DAS sei die auserkorene Norma-Gewinnerin der Saison. Sitzt man jedoch im Theater an der Wien, könnte man sich nicht sicherer sein, man höre die beste Norma aller Zeiten.
Gesanglich ist das TadW um eine Ellenlänge vorne. Ob Opernorchester oder Symphoniker, Fabrik oder Fantasie, es ist ein klassisches potato potahto. Was einem besser gefällt: Sphärische Unwirklichkeit oder knallharte Realität.